Kirche der Sünder
I
Viel wurde und wird in den letzten Jahren, Monaten und Wochen diskutiert über Missstände und Missbrauch in der Kirche. Dabei - das ist eine erste Vorbemerkung - ist dieser Skandal weder auf die katholische Kirche begrenzt noch auf beide Großkirchen in Deutschland. Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt an Minderjährungen und Schutzbefohlenen ist ein Verbrechen - egal wo, wann oder wie häufig es geschieht. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, der sich auch die gesamte Gesellschaft mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu stellen hat. Dass die Kirchen mit ihren Moralvorstellungen und Ansprüchen dabei in einen ganz besonderen Fokus geraten, ist selbstverständlich. Wichtig ist bei allen Anstrengungen zur Aufarbeitung dieses Unrechts, dass die Opferperspektiveden Rang zuerkannt bekommt, der ihr gebührt, nämlich die allererste Stelle!
Wie gehen wir als Christen mit und in dieser Situation um?Es ist selbstverständlich, dass Ignoranz, Verdrängung oder ‚Schönfärberei‘ sich von selbst verbieten und dass in transparenten und unabhängigen Verfahren alles getan wird, um diese Unrechtstaten aufzudecken und alles zu tun, damit in allererster Linie den Opfern - wenn das Geschehene schon nicht ungeschehen gemacht werden kann - soweit es geht, Gerechtigkeit widerfährt, ebenso Hilfe und Wiedergutmachung, die diesen Namen auch verdient.
II.
Ich möchte allerdings noch auf andere Opferdieser Verbrechen aufmerksam machen. Denn es gibt sie noch, Menschen, für die die Kirche (noch) eine geistige und geistliche Heimat ist. Gerade diese Menschen leiden in besonderer Weise darunter, dass sie schmerzlich und beschämend erleben müssen: ‚Ihre‘ Kirche ist immer beides zugleich: Kirche der Sünder, aber eben auch Kirche der Heiligen. Deren Vorbild wird verdunkelt, ja in den sprichwörtlichen Schmutz gezogen durch diese scheußlichen Taten der sexualisierten Gewalt. Was kann, ja was darf man angesichts dieser Vorkommnisse noch sagen? Das ist eine der großen und bedrückenden Fragen. Und vielleicht kann man nur ganz schüchtern und voller Trauer auf etwas hinweisen, was eben auch wahr ist: Bei allem Leid, bei allem Schrecklichen, das den Opfern widerfuhr und widerfährt (Wer kann das ausschließen für die Gegenwart und Zukunft?) ist es eben doch auch wahr, dass die sexualisierte Gewalt nicht das gesamte kirchliche Spektrum abbildet.
Und ein Zweites möchte ich versuchen zu sagen: Es darf bei all dem Schlimmen weder etwas verdrängt, noch verharmlost werden. Dennoch darf - denn auch das wäre unredlich - vom Missbrauch nicht auf das Eigentliche der kirchlichen Botschaft und des kirchlichen Lebens geschlossen werden. So furchtbar die Taten auch waren bzw. sind, so viele und tiefe Wunden sie geschlagen haben (und leider noch schlagen) - es bleibt doch wahr, dass Glaube, Hoffnung und Liebe, das sind, was Kirche in der Welt zu bezeugen hat. Ja, die Kirchen sprechen sich durch diese Untaten oft selbst das Urteil. Und dennoch dürfen sie die Hoffnung - in Wort und Tat - nicht verschweigen, dass der Liebe und der Annahme die Zukunft gehören und nicht der Angst und dem Hass. Das ist übrigens genau der Ort der Caritas. Er ist ‚in‘ und ‚außerhalb‘ der Kirche zu finden. Und es ist nicht ausgemacht, ob unsere - oft reinliche Trennung - die richtige ist, denn:
"Während, so kann man sagen, sich andere Identitäten durch Abgrenzungen bestimmen, ist das Christliche als das Gemeinsame aller Menschen auf Grund ihrer Herkunft und Zukunft in Gott auszulegen."[1]
III
Derzeit geben die Kirchen eben genau nicht dieses Bild, das so wichtig wäre, in der Öffentlichkeit ab. Gerade durch diese unsäglichen Missbrauchsangelegenheiten! Sie wirken gewissermaßen wie ein ‚Brandbeschleuniger‘ in Bezug auf Einseitigkeiten, Kurzschlüssen und ungerechtfertigten Reduktionen - auch gegenüber der Kirche.
Was ich meine, sagt ein gewiss unverdächtiger Zeuge in einer Art und Weise, die nur ihm heute möglich zu sein scheint. Eugen Drewermann sagt es gegenwärtig wie kaum ein Zweiter, "wie nötig Religion" ist.
"Wie nötig wäre Religion! Wer, wenn nicht sie, könnte den Menschen sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur, dass sie zu schade sind, um sich als Konsumenten und als Produzenten im Wirtschaftskreislauf dubioser Kapitalverwerter zu verschleißen… Auf dass Menschen eine absolute Geltung haben, bedarf es eines absoluten Gegenübers ihrer Anerkennung. Ein solches Gegenüber kann und darf nicht die Natur, nicht die Gesellschaft, nicht ein Zweckverband aus Industrie und Militär und Banken sein. Wie aber glauben an ein Absolutes, auf dass Menschen nicht länger mehr als Mittel für die Zielsetzungen anderer versklavbar sind?[2]
Und ein Zweites:"Es müsste alles in der bürgerlichen Welt sich ändern, würde dieser Grundgedanke Jesu wirklich werden…"Drewermann nennt diesen "Grundgedanken Jesu" in einem seiner Bestseller:
"Das ist die Chance, die in der Krise des Missbrauchsskandals für die katholische Kirche liegt: sie kann und muss - endlich! - die Schuld von Menschen als Tragödie begreifen. Menschen sind nicht böse, wenn sie Böses tun, und wenn sie‘ s tun, dann als Verunglückte und Unglückliche, als Menschen, die sich selbst verloren haben, als Verzweifelte. Deshalb ist ihnen mit Moral und Strafrecht nicht gerecht zu werden. Was sie benötigen, ist genau das, was Jesus allen Menschen als >>Erlösung<< schenken mochte: ein Ende der Verlorenheit, ein Reifen in Vertrauen, ein Überlieben der Lieblosigkeiten, die sie gekränkt und krank gemacht haben…Es würde und es müsste alles in der bürgerlichen Welt sich ändern, würde dieser Grundgedanke Jesu wirklich werden, und wozu sonst wohl sollte eine >>Kirche<< gut sein, wenn nicht eben dazu, Jesu Botschaft zu verwirklichen?"[3]
Zum Schluss sei ein - zugegebenermaßen bitteres - Fazit gezogen. Eines allerdings, das noch Raum für eine Hoffnungsperspektive lässt:
"Die ‚Sünden der Priester‘ werden immer und zu jeder Zeit auf ihre Weise Anlass geben für Kritik. Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und Schutzbefohlenen sind Verbrechen. Sie verdunkeln andere Dimensionen der Kirche, die nicht vergessen werden dürfen: Kirche ist auch Mysterium. Kirche ist mehr als ihr Erscheinungsbild. Kirche ist vielen Menschen nach wie vor Heimat- auch wenn einem heutzutage das ‚Haus voll Glorie‘ weniger leicht über die Lippen geht, weil Kirche so (triumphalistisch) einfach nicht mehr empfunden und erlebt wird…Sie ist immer beides zugleich: Kirche der Sünder, wie sie schmerzlich und beschämend erlebt wird, aber eben auch Kirche der Heiligen - also Kirche von Menschen, die um Wissen um ihre Erlösungsbedürftigkeit zu exemplarischen Menschen heranreifen können. Karl Rahner hat beide Dimensionen gesehen und theologisch reflektiert." [4]
Rudolf Hubert, Schwerin, den 18.10.2021
[1] Roman A. Siebenrock in "Nach Rahner" - post et secundum, Köln 2004, S. 86
[2] Eugen Drewermann "Wendepunkte oder Was eigentlich besagt das Christentum?", Ostfildern 2014, S. 9
[3] Eugen Drewermann "Kleriker", - Neuausgabe mit einem aktuellen Vorwort, Kevelaer 2019, S. XLV
[4] Andreas R. Batlogg SJ/ Albert Raffelt in "Karl Rahner - Kirche der Sünder", Freiburg-Basel-Wien 2011, S. 95 f