Löscht den Geist nicht aus!
Diese Frage stellt sich vielfach in Zeiten der Verunsicherung, ja Verstörung. Da ist die katastrophale Situation des sexuellen Missbrauchs durch Priester der Kirche, gepaart mit einem z. T. desaströsen Chaos in der Kommunikation, da ist ein z. T. öffentliches Machtgerangel im Gange, das dem Auftrag "Diener aller zu sein" nur Hohn spricht. Da sind Ausgrenzungstendenzen im kirchlichen ‚Machtapparat‘ zu erkennen, die nicht nur in Bezug auf die Frauenfrage der Gottebenbildlichkeit a l l e r Menschen Hohn sprechen. Kaschiert wird das alles z. T. noch durch das sprichwörtliche ‚Kleben an den Stühlen‘ und dem süffisanten Hinweis, dass es in der Kirche doch gar keine Macht gäbe. Was es gibt, das ist dann schon die ‚Vollmacht‘. Strukturkrisen wechseln sich mit Finanzkrisen ab, Menschen verlieren ihre geistige und geistliche Heimat. Die Botschaft der Freude, das Evangelium wird bis ins Unkenntliche verzerrt. Viele Menschen in der Kirche fragen sich: "War‘ s das?" Und: "War’s das wert?" Der Dialogprozess der deutschen Bischöfe mit den Laien lief de facto in‘ s Leere und auch heute gibt es Kräfte, die den synodalen Weg verdächtigen, verunglimpfen und torpedieren.
Kirche - wohin gehst du?
Mir scheint ein Hoffnungszeichen zu sein, dass diese Kirche selbst ihre größte Kritikerin ist. Sie, die in Bezug auf Jesus von Nazareth und auf SEINEN Geist gar nicht anders kann, als ihre Heiligmäßigkeit zu bekennen, bekennt in dem selben Atemzug, dass sie eine "Kirche der Sünder", ja eine "sündige Kirche" ist. [1]
"Ich meine, wir sollten diesen Begriff, sündige Kirche‘ ruhig stehenlassen, uns zu ihm bekennen; denn wir sind die armen Sünder, die die Kirche de facto zu einer sündigen Kirche machen." [2]
So lautete das Votum Karl Rahners auf der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland[3], dem sich die Synode angeschlossen hat.[4]
Ein zweites Hoffnungszeichen ist für mich der Umstand, dass ihre größten Theologen mit der Kritik ‚nicht hinterm Berg halten‘. Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt formulierte im Jahr 1992 völlig unmissverständlich:
"In der Kirche wird es dann eng und stickig, wenn ihre Amtsträger vergessen, dass das Sakrament nicht Zuteilung von Macht ist, sondern Enteignung meiner selbst für den, in dessen >>persona<< ich reden und handeln soll…Je mehr Apparat wir machen, und sei es der modernste, desto weniger ist Platz für den Geist, desto weniger ist Platz für den Herrn und desto weniger ist Freiheit." [5]
Ein drittes Hoffnungszeichen ist für mich die Tatsache, dass die Wege aus der Krise längst bekannt sind. Es gibt klare und eindeutige Grundaussagen, Gesamtstrategien und grundsätzliche Ausrichtungen für die "Kirche in der Welt von heute".[6] Woran es hapert, ist die Umsetzung. Für die bereits erwähnte Synode der Bistümer Deutschlands schrieb Karl Rahner sein Programmbüchlein "Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance"[7]. Wer die einzelnen Kapitel liest, kann unschwer erkennen, wie wenig wir als Kirche heute dieses Vermächtnis schon eingelöst haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir nicht die Chance haben und auch die Verpflichtung, es wenigstens zu versuchen. Darum möchte ich im Nachfolgenden die für mich wesentlichen Teile kurz darstellen.
- In welcher Welt leben wir?
"Wir leben in einer Zeit der Massengesellschaft, deren Autoritäten nur funktional verstanden werden, in der in einer merkwürdigen Gleichzeitigkeit Freiheit und Sozialität Schlüsselbegriffe geworden sind und sich gegenseitig zugleich bedrohen und begründen. Wir leben in einer Welt, in der der Mensch in den verschiedensten Dimensionen das Objekt seiner eigenen Machbarkeit und Veränderung geworden ist, so dass er sich kaum noch als ein fertiges Ebenbild Gottes verstehen mag, sondern eher als den Punkt des Kosmos, an dem dessen Fahrt in utopischen Entwürfen ins gänzlich Unbestimmte zu gehen anfängt. Wir leben in einer Welt, in der die Tiefenpsychologie Abgründe im Menschen entdeckt, die sie einerseits nicht durch einen Appell an eine rationale Freiheit des Subjekts, sondern durch eine naturwissenschaftlich konzipierte Psychotechnik zu beherrschen sucht und die doch anderseits den Menschen in die anonymen Mächte seiner biologischen und gesellschaftlichen Herkunft aufzulösen unternimmt. Wir leben in einer Welt, die eine Gesellschaft der steuernden Massenmedien ist, von denen niemand mehr genau wissen kann, wer sie selber steuert." (24)
- Dienst als Wesen und Auftrag der Kirche
"…wenn die Kirche trotz ihrer Sendung zu allen nicht meinen darf, außer ihrer sichtbaren Gestalt gäbe es kein Heil und kein langsames Heilwerden der Welt, dann ist eben das Gewinnen von neuen kirchlichen Christen nicht so sehr und in erster Linie die Rettung der sonst Verlorenen, sondern die Gewinnung von Zeugen, die als Zeichen für alle die überall in der Welt wirksame Gnade Gottes deutlich machen.
Der Wille zur Kirchlichkeit der Menschen muss somit in der Kirche ein Wille sein, dass diese kirchlichen Christen allen dienen…Die Kirche hat auch dann für Gerechtigkeit und Freiheit, für die Würde des Menschen einzutreten, wenn es ihr selbst eher schadet, wenn ein Bündnis mit den herrschenden Mächten, wenn auch nur verhohlener Art, ihr auf den ersten Blick eher nützen würde." (66-67)
- Kirche ist keine Moralanstalt - Wovon wir zuerst und zuletzt reden müssen!
"Wir haben zuerst und zuletzt dem Menschen von heute vom innersten, seligen, befreienden, aus Angst und Selbstentfremdung erlösenden Geheimnis seines Daseins zu künden, das wir ‚Gott‘ nennen. Wir müssen dem Menschen von heute wenigstens einmal den Anfang des Weges zeigen, der ihn glaubwürdig und konkret in die Freiheit Gottes führt. Wo der Mensch die Erfahrung Gottes und seines aus der tiefsten Lebensangst und der Schuld befreienden Geistes auch anfanghaft nicht gemacht hat, brauchen wir ihm die sittlichen Normen des Christentums nicht zu verkündigen. Er könnte sie ja doch nicht verstehen…" (72)
- "Liebe -und tu‘ was du willst." (Augustinus)
"Wenn die Nächstenliebe uns gebietet, keinen als Feind im letzten Sinn des Wortes zu behandeln, dann ist es den Christen in der Kirche erst recht theologisch gestattet und moralisch geboten solche Randsiedler als Brüder zu betrachten, ohne es sie bei jeder Gelegenheit merken zu lassen, dass sie ja, genau genommen, doch keine wahren Christen in der Kirche seien. Solche nämlich können nun einmal, um mit Augustinus zu reden, dem ‚Herzen‘ nach heilshafter zur Kirche gehören als die, die ‚dem Leibe nach‘, also allein religionssoziologisch in der Kirche sind…"
"Wo man nicht den lebendigen Gott und Jesus als Herrn bekennt, ist man außerhalb der Kirche. Auch eine Kirche der offenen Türen ist kein Jahrmarkt, auf dem sich alle und jede Meinung ein Stelldichein geben können…Damit ist freilich die Frage nach der Orthodoxie in der Kirche von heute noch nicht gelöst…Das ist heute darum sehr oft schwer zu sagen, weil ein sehr bedeutsamer theologischer Pluralismus in der Kirche gar nicht vermieden werden kann…" (79 f)
- Wahre Spiritualität
"Wo lassen wir uns darüber belehren, dass alles gesellschaftskritische und gesellschaftspolitische Engagement, das heute als Kampf für mehr Freiheit und Gerechtigkeit heilige Pflicht der Christen und der Kirche ist, eine geheime Spiritualität in sich birgt oder bergen müsste, weil es für den Christen herauswächst aus jener innersten, absoluten Verpflichtung, die den Menschen vor Gott stellt, ob er dies reflektiert oder nicht?" (91)
"Wo aber der Mensch in einer letzten Hoffnung sich bedingungslos dem wahren Gott über alle kalkulierbaren Einzelwirklichkeiten hinaus übergibt, da kommt er wirklich in seine letzte Freiheit hinein, die von Gott selbst erfüllt ist und auch dann schon eine geheime Seligkeit in sich trägt, wenn wir verzweifelt mit uns und dieser Welt nicht mehr fertig werden... Dieser Botschaft muss im Leben ohne Rückversicherung gewagt werden, dann zeigt sie, dass sie trägt und befreit…Nur wenn wir es fertigbringen, zu begreifen und zu leben, dass Gott nicht unsere langsam als solche durchschaute Projektion, sondern wir selbst die in Eigenstand und Freiheit gesetzte Projektion Gottes sind, nur wenn uns dies gelingt, indem wir arglos und vertrauend entdecken, dass insgeheim unser Erstes und Letztes in uns immer schon so denkt und lebt und man sich darum auch in Freiheit darauf einlassen kann, erfahren wir die befreiende und seligmachende Macht der Botschaft vom lebendigen Gott, von seiner erlösenden Gnade, von seiner Vergebung und von seiner uns vergöttlichenden Liebe, die keine Frage mehr stellt, weil sie selbst die eine Antwort ist." (93/94)
"Ein zweites muss in der Kirche echter Spiritualität lebendig verkündet werden: Jesus. Das heißt der Glaube, dass in der Geschichte unseres Lebens und der Welt in ihm die absolute Selbstzusage Gottes als des uns befreienden Lebens für uns greifbar und für immer festgemacht ist, in ihm, dem in den Tod Gegebenen und endgültig von Gott Angenommenen und Lebenden." (94)
Der Prozess der Erneuerung unserer Kirche wird nur gelingen, wenn er ein geistlicher Prozess ist. ‚Geistlich‘ ist kein nebulöser Begriff oder einer, der dort eingesetzt wird, wo man nicht mehr weiterweiß. Glaube und Leben sind eine untrennbare Einheit. Und vielleicht ist dies die allergrößte Gefahr für die "Kirche in der Welt von heute": Dass zwischen Glaube und Leben eine Trennung gezogen wird, die künstlich ist und die erheblich dazu beiträgt, dass der Glaube für das Leben im Alltag immer unattraktiver, ja belanglos(er) wird.[8]
"Denn alle abstrakte Theologie liefe schließlich doch ins Leere, wenn sie sich nicht selber aufheben würde aus Worten über die Sache in ein Gebet hinein, in dem vielleicht doch geschehen könnte, worüber vorher nur geredet wurde." [9]
Rudolf Hubert
Referent für Caritaspastoral
Schwerin, den 30.09.2021
[1] Karl Rahner "Kirche der Sünder" - Mit einem Geleitwort von Karl Kardinal Lehmann, herausgegeben von Andreas R. Batlogg und Albert Raffelt, Freiburg 2011
[2] Karl Rahner "Kirche der Sünder" - Mit einem Geleitwort von Karl Kardinal Lehmann, herausgegeben von Andreas R. Batlogg und Albert Raffelt, Freiburg 2011, S. 92
[3] Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. 7. Vollversammlung. Protokoll 7.- 11. Mai 1975, S. 36 f
[4] Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland: Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe. Bd. 1. Freiburg 1976, S. 71-111, hier 102
[5] Joseph Ratzinger/Papst Benedikt "Berührt vom Unsichtbaren", Freiburg-Basel-Wien 2000/2005, S. 295 (aus "Zur Gemeinschaft berufen - Kirche heute verstehen, 1992)
[6] Titel der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils
[7] Karl Rahner "Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance", Freiburg-Basel-Wien 1972 - Die Seitenzahlen werden jeweils in Klammern gesetzt.
[8] Vgl. hierzu Elmar Klinger "Das absolute Geheimnis im Alltag entdecken" - Zur spirituellen Theologie Karl Rahners, Würzburg, 1994
[9] Karl Rahner "Gebete des Lebens", Freiburg-Basel-Wien 1984, S. 10