Ist "Glaube" noch gefragt? - Caritas als Antwort des Glaubens
I.
Denn die meisten scheinen zu meinen, dass das entweder keine Frage, sondern viel eher eine Tatsache ist und andere wiederum meinen, diese Tatsache ist von so erdrückender Evidenz, dass das Fragezeichen durch ein dickes Ausrufezeichen zu ersetzen ist. Auch in kirchlichen Kreisen, in Verbänden und Vereinen ist es ja oft so, dass man die Dienstleistung in der Pflege, in der Beratung, in der Integrationshilfe oder im Schuldienst anerkennend lobt und sie durchaus gern in Anspruch nimmt. Dass das mit Kirche etwas zu tun hat, gar ein ‚kirchlicher Grundvollzug‘ ist, ein "Ort kirchlichen Lebens" - das wird mitunter nur kopfschüttelnd, vielleicht auch verständnislos belächelt oder weit von sich gewiesen und als Vereinnahmung brüsk abgewiesen.
Christsein ist tatsächlich heute vielleicht doch schwerer als in früheren Zeiten. Das Wort vielleicht steht nicht als Lückenfüller oder rein zufällig dar, denn es ist tatsächlich eine Frage, kein unumstößlicher Tatbestand. Allerdings, wenn selbst der Schweizer Theologie Hans Urs von Balthasar schreibt,
"Man kann nicht leugnen, dass es heute schwieriger ist, objektiv Christ zu sein als in früheren Zeiten. Es gibt kein Bergendes mehr: weder kann man sich, der Kirche misstrauend, in der progressiven Gesellschaft bergen, noch sich traditionalistisch in der Kirche einkuscheln, um sich vor den Forderungen der Gesellschaft zu verbergen." [1]
scheint diese Frage beantwortet zu sein. Die bürgerliche Gesellschaft kommt weitgehend ohne Glaube aus und ein Rückzug in den kirchlichen Binnenbereich ist eine Scheinlösung, wenn man den (An) Forderungen der Menschen davonlaufen will. Es gibt keinen sterilen, ungefährdeten Kirchenraum. Die "Schleifung der Bastionen"[2] ist längst erfolgt!
II.
Wiekonnte es soweit kommen im sogenannten ‚christlichen Abendland‘, mag sich manch‘ nachdenklicher unter den Mitmenschen fragen? Zunächst, es scheint kein ganz neues Phänomen zu sein; allerdings eines, dass durch Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die beinahe vollständige Computerisierung und Säkularisierung sämtlicher Lebensvollzüge noch einmal ein ganz anderes Niveau erreicht hat. Die Geschwindigkeit der Veränderung ist atemberaubend im wörtlichen Sinn. Doch schon unmittelbar nach den furchtbaren Schrecken und Gräueln des zweiten Weltkrieges, noch in den 40iger und 50iger Jahren des 20. Jahrhunderts, wagte der Jesuitentheologe Karl Rahner eine Zeitdiagnose, die bis heute, fast 80 Jahre später, an Aktualität nichts eingebüßt hat. Ja, es scheint, sie ist aktueller denn je, wenn wir auf das Weltgeschehen blicken und einerseits auf die Hybris von Allmacht buchstäblich in Gedanken, Worten und Werken sowie auf die Abgründe der Angst und Ohnmacht, die die Menschen im aufgeklärten 21. Jahrhundert im eigentlichen Sinne heimsuchen.
"Es ist seltsam gegangen mit dem Menschen in den letzten Jahrzehnten der europäischen Geistesgeschichte. Der Mensch fühlt sich als der Freie, der Ungebundene, der Schrankenlose… als die autonome Person. Er wollte frei sein und kämpfte leidenschaftlich gegen Bevormundung durch Kirche, Staat, Gesellschaft, Herkommen, Sitte; er kämpfte für die freie Wissenschaft, für freie Liebe, für freie Wirtschaft, für Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Koalitionsfreiheit und tausend andere Freiheiten. Und es war oft ein großer, ehrlicher Kampf - und manchmal auch ein törichtes Aufbegehren, das Zügellosigkeit und Ungebundenheit, die Freiheit zum Irrweg und Verderben mit der wahren Freiheit verwechselte. Und während der Mensch noch den Schlachtruf der Freiheit erhob, war dieser europäische Mensch plötzlich in eine ganz seltsame Knechtschaft geraten…Der autonome Mensch geriet in eine Knechtschaft von innen her. Mitten im Innersten des bindungslos gewordenen, des kirchen - und dogmenfreien Menschen stand unversehens eine Gewalt auf, die den scheinbar ganz frei gewordenen Menschen bedrängte und verknechtete. In dem Maße, als er den äußeren Bindungen einer allgemein verpflichtenden Sitte, verpflichtender Grundsätze des Denkens und Handelns sich entzog, in dem Maße wurde er nicht eigentlich frei, sondern verfiel anderen Herrschaften, die von innen her ihn übermächtig überfielen: den Mächten des Triebes, den Mächten des Geltungsstrebens, des Machthungers und gleichzeitig den Ohnmächten der von innen her den Menschen aushöhlenden Sorge, der Lebensunsicherheit, des Sinnschwundes des Lebens, der Angst und der ausweglosen Enttäuschung. …
Dabei ging es noch einmal seltsam zu: Der Mensch, der damit beschäftigt war, sich sein Recht und seine Freiheit zu erkämpfen, musste sich bei einem solchen Geschäft unvermeidlich sehr wichtig nehmen, er wurde in seinen eigenen Augen immer kostbarer und bedeutsamer. Und so wurde ihm sein eigenes Innenleben- und das ist ja schließlich der Raum, wo er hoffen konnte, der jeweils Einzige zu sein - zum Gegenstand einer immer radikaleren Selbstbehauptung, eines immer brennenderen Forschungstriebes und einer immer glühenderen Liebe. Je mehr er aber sich darin vertiefte, zu je kühneren Entdeckungsfahrten durch die unbekannten Lande des inneren Menschen er sich aufmachte, je schonungsloser er in Wissenschaft und Kunst und Dichtung die Geheimnisse des Herzens zu ergründen suchte, umso fragwürdiger wurde, was er da entdeckte… "Er wollte ganz sich selbst entdecken und in sich die autonome Person von unantastbarer Würde - und hatte eigentlich nach aller Tiefenpsychologie und Psychotherapie und aller Existentialphilosophie und aller Anthropologie, in der sich alle Wissenschaften einfanden, um herauszubringen, was eigentlich der Mensch in seinen tiefsten Gründen und Untergründen sei, nur entdeckt, dass in den tiefsten Tiefen seines eigentlichen Wesens er eigentlich gar nicht - er sei, sondern ein unübersehbares, ungeheuerliches Chaos von allem und jedem, in dem der Mensch eigentlich nur so etwas ist wie ein sehr zufälliger Schnittpunkt dunkler, unpersönlicher Triebe…"[3]
Die große Sehnsucht des Menschen nach Freiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe - sie ist abgeglitten in eine fast wahnsinnig anmutende Ambivalenz: Das große, selbstbewusste Ich - ein Ich, das nur am Du zum Ich wird, wie Buber sagen würde - dieses wertvolle Ich ist gleichzeitig "ein sehr zufälliger Schnittpunkt dunkler, unpersönlicher Triebe." Der ehemalige Papst Benedikt XVI. hat diese ‚Phänomen Mensch‘[4] als junger Theologe in einer einprägsamen Formel zum Ausdruck gebracht:
"Das Allereigenste-was uns letztlich wirklich allein gehört: das eigene Ich, ist zugleich das am allerwenigsten Eigene, denn gerade unser Ich haben wir nicht von uns und nicht für uns. Das Ich ist zugleich das, was ich ganz habe und was am wenigsten mir gehört." [5]
Der Jesuitentheologe Karl Rahner kommt zu einem ähnlichen Fazit, allerdings endet seine Analyse mit der weiterführenden Bemerkung, dass nämlich der "Hörer des Wortes"[6] diese Brüchigkeit seiner Existenz auf Dauer nicht aushält, so dass die Frage aufsteht nach der Bedingung der Möglichkeit dieses ‚Befundes‘. Worauf weist die menschliche Existenz hin, wenn - wie Karl Jaspers formuliert - "Keine Existenz ohne Transzendenz" möglich ist?
"Weiß der Mensch von heute aus sich wirklich mehr von sich, als dass er eine Frage ist in eine grenzenlose Finsternis hinein, eine Frage, die nur weiß, dass die Last der Fragwürdigkeit bitterer ist, als dass der Mensch sie auf die Dauer erträgt?"[7]
III
Wie gestalten wir den Glauben inmitten dieser Welt der Abgründe und Sehnsüchte, der Fragen und Hoffnungen, der Trauer und der Freude? Wer und was gibt uns Halt und Orientierung? Karl Jaspers würde gewiss von einer "Achsenzeit" der Kirche im 20. Jahrhundert im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils sprechen. Bei den ‚Müttern und Vätern‘ des Konzils wird man deshalb sicher ‚in die Schule gehen‘ müssen. Und gewiss wird es immer auch die ‚Großinquisitoren‘ im Sinne Dostojewskis geben, die dem Christentum vorwerfen, dass es eine frohe Botschaft, ein Evangelium verkündet, das den Menschen überfordert. Die Menschen, so deren einhelliges ‚Credo‘, sind nicht ‚tauglich‘ für die Freiheit. Sie müssen geführt, gewissermaßen ‚domestiziert‘ werden. Und da spielt es dann auch schon kaum mehr eine Rolle, ob dies durch einen ‚Führer‘ oder durch eine ‚führende Partei‘ geschieht, in der sich auch immer derjenige oder diejenige durchsetzt mit den besten Beziehungen und den breitesten Ellenbogen. Die Bemühungen der kirchlichen Sozial- und Sittenlehre werden dann allerhöchstens noch müde belächelt. In der Regel werden sie zynisch und höhnisch kommentiert und ihres angeblichen Defizits überführt:
"Wir Orthopraktiker sind näher beim Evangelium als du und können es trotzdem entbehren. Wir sind bessere Christen als du, aber glauben atheistisch an Gott. Du meintest schlauer zu sein als dein Christus, indem du die Psychologie der Massen und gar ein wenig Soziologie studiertest, aber so dilettantisch, dass es ein leichtes war, dich darin zu überholen und dabei den wirklichen Menschen zu finden, wo du nur bis zu einer Menschenattrappe gelangt bist. Der wirkliche Mensch ist der, der sich selber in die Hand nimmt, sich selber hilft, damit Gott ihm helfe, der wirksam sich und seinen Nächsten zugleich rettet…Wir handelnde Christen sind mündig genug, auch unter der Flagge des Marxismus zu segeln und trotzdem wir selber zu sein. Wir können ebensogut als Jesuiten Nietzscheaner sein und sind es wirklich und mit gutem Gewissen, denn der von dir eingerichtete fromme Verein ist doch lauter bürgerliche Verlogenheit und dekadente Selbsttäuschung einer in ihren Konventionen hoffnungslos eingeschlossenen Gesellschaft." [8]
Hier werden ‚kluge Reden‘ nicht viel weiterhelfen. Wohl aber die Tat der Liebe, die Caritas. Caritas als Antwort des Glaubens kann an dieser Stelle wohlbegründet deutlich machen, dass es sich lohnt, für Frieden und Freiheit, für Gerechtigkeit und Teilhabe, für Solidarität und Gemeinwohl einzutreten, denn:
Überall, wo Gutes geschieht, ist nach unserem Glaubensverständnis Gottes Geist am Wirken, denn es gibt nichts Gutes, das wir als Menschen vollständig eigenmächtig je ‚leisten‘ könnten.
Weil also wirklich jede sittlich gute Tat - egal, wo und wann und durch wen sie geschieht - immer einen Bezug zu Gott und damit auch zu Christus hat, ist jedes sittlich gute Tun gewissermaßen vom Christusereignis ‚imprägniert‘.
Und wenn es einen ‚Heilsvollzug‘ nur gibt in irgendeiner Art der Beziehung zu Christus, dann ist damit auch ein Bezug zu SEINER Kirche mit gesetzt. Denn sie ist ohne Beziehung zu Christus weder denkbar noch real.
Auch dies kann immer noch zu theoretisch und zu theologisch sein. Wir sollten als Caritas uns in beidem einüben: Wir sollten die Empfehlung des ersten Petrusbriefes ernst - und annehmen, dass wir auch in der Lage sind, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach dem Grund unserer Hoffnung fragt. Das betrifft auch das Gespräch in der Kirche, wo wir das Wirken des Geistes, der "weht, wo er will" zu bezeugen haben.
Und wir sollten so sprechen, dass Menschen, die in der kirchlichen Tradition ‚nicht zu Hause sind‘, unsere Botschaft verstehen können und sich nicht abwenden, weil sie sich im ‚geistlichen Ausland‘ wähnen. Mit solch einem ‚Übersetzungsversuch‘ soll diese kleine Betrachtung enden und uns gleichzeitig Mut machen, mit dem Gespräch über das, was uns trägt, dort zu beginnen, wo Antworten gesucht werden. Wo keine Frage ist, kann auch keine Antwort sinnvoll sein. So ist man gemeinhin geneigt, anzunehmen. Vielleicht ist es aber auch das Gebot der Stunde, "das Fragen (neu) zu lernen" [9], allzu große (Selbst)Sicherheiten und Plausibilitäten (nachhaltig) zu irritieren und in aller Demut und Klarheit darauf hinzuweisen, dass vieles, was ganz selbstverständlich ist, oftmals fragwürdig im wörtlichen Sinn ist, also der Frage würdig.
"Viele Eltern gibt es heute, die schon lange ihre Kinder keine Gebete zum Einschlafen mehr lehren; sie sitzen des Abends an ihrem Bett; erzählen ihnen noch eine kleine Geschichte, streicheln ihnen über den Kopf und flüstern ihnen ins Ohr: Hab keine Angst; ich bin bei dir." Sie denken nicht daran, dieses Streicheln wie ein verstohlenes Segnen und ihre Gute-Nacht-Geschichte wie ein Gebet und ihre Worte zum Abschied wie ein Bekenntnis zu Gott zu verstehen; und doch handelt es sich genau darum. Kein Vater, keine Mutter kann das Versprechen wirklich erfüllen: "Ich bleibe ja bei dir" - noch heute Nacht kann der Tod sie ereilen. Alles, was wir aus Liebe einander versprechen und woran wir in Liebe zueinander glauben, ist unendlich viel mehr als das, was wir wirklich zu halten vermögen. Und gerade dieses unendliche Viel-Mehr der Liebe nennen wir Gott. Er ist erfahrbar in jedem, der liebt; doch damit die Liebe nicht scheitert, glauben wir, dass er vor allem auch dort ist und sein muss, wohin wir einander trotz aller unserer Liebe doch nicht begleiten können. Die Kraft, die dort ist, wo wir zu schwach sin zu sein, die ist uns Gott." [10]
Rudolf Hubert
Referent für Caritaspastoral
Schwerin, den 20.06.2023
[1] Hans Urs von Balthasar "Kleine Fibel für verunsicherte Laien", Einsiedeln-Trier 1989, S. 99
[2] Buchtitel von Hans Urs von Balthasar 1952
[3]"Beten mit Karl Rahner" - Freiburg-Basel-Wien 2004, Band 1 "Von der Not und dem Segen des Gebetes", eingeleitet von Roman Anton Siebenrock und Rudolf Hubert, S. 67 f (Fettdruck immer RH)
[4] Buchtitel von Teilhard de Chardin
[5] Joseph Ratzinger / Benedikt "Einführung in das Christentum", München 1969, S. 149 f
[6] Buchtitel von Karl Rahner 1941
[7] "Beten mit Karl Rahner" - Freiburg-Basel-Wien 2004, Band 1 "Von der Not und dem Segen des Gebetes", S. 68
[8] Hans Urs von Balthasar "Der antirömische Affekt", Freiburg-Basel-Wien" 1974, S. 296
[9] Buchtitel des Theologischen Jahrbuchs, Leipzig 1975
[10] Eugen Drewermann "Das Wichtigste im Leben", Ostfildern 2015, S. 56 f. (Der sechste Tag 391 f.)