Mit brennender Sorge
In diesen Tagen findet bundesweit die Interkulturelle Woche statt, so auch in Schwerin. Sie wirbt für gegenseitigen Respekt und Verständigung. Gleichzeitig weisen aktuelle Umfragen auf einen Rechtsruck im Land hin: 32 Prozent der Befragten würden die AfD wählen. Ist das ein Rückschlag für das, was Sie seit Jahren tun?
Nein, ganz im Gegenteil. Die Ursachen für diese Entwicklung sind ja erkennbar. Darum fühle ich mich eher ermutigt, das zu tun, was das Motto der diesjährigen Interkulturellen Woche ist und was uns die Bischöfe in diesem Jahr besonders ans Herz legen: Neue Räume zu schaffen, Begegnungen zu ermöglichen, um Fremdheit und Ängste abzubauen.
Wo gibt es denn solche angstfreien Räume?
In der Caritas, in Gemeinden gibt es viele Projekte, die in diesem Sinn arbeiten, beispielsweise "Spielend deutsch lernen", "Boxen gegen Gewalt" oder auch die "Kleine Weile" im Schweriner Gemeindehaus. Was man allerdings heute vielleicht deutlicher als früher sagen muss: Es gibt Gründe für diesen politischen Rechtsruck. Sie müssen benannt werden. Und es müssen jene, die sich heute als "Alternative" zum demokratischen Gemeinwesen verstehen, befragt werden. Nach ihren Lösungskompetenzen und Lösungsansätzen, vor allem nach ihrem Welt- und Menschenbild. Hier sind wir als Kirche, als Caritas in einer besonderen Verantwortung.
Papst Pius XI. hat 1937 eine Enzyklika an die deutschen Bischöfe geschrieben. Der Titel hieß "Mit brennender Sorge". Gibt es heute Anlass zu "brennender Sorge"?
Ja, das denke ich. Denn die Gesellschaft ist massiv gespalten, in der so genannten "Mitte" gibt es radikale Tendenzen, die früher in diesem Ausmaß nicht vorkamen. Es werden rasch Schuldige gesucht für nachvollziehbare Ängste. Sie sind nachvollziehbar, weil die Gesellschaft stark verunsichert ist. Ich nennen die Schlagworte: Corona, Klima, Angriffskrieg in der Ukraine, Inflation, soziale Unsicherheit, Überforderung. Das alles macht Menschen Angst. Und da haben es politische Strömungen leicht, die einfache "Lösungen" anbieten, die Geflüchtete als Ursache der Probleme ansehen statt auf die Ursachen der Flucht zu schauen und hier nach Lösungen zu suchen.
Aber diese Lösungen sind schwer zu finden, selbst bei bestem Willen und höchstem Sachverstand. Und man hat den Eindruck: Nicht jeder will überhaupt humane Lösungen.
Das gilt für einige. Wer völkisch denkt, hat sich selbst aus einem humanen Diskurs verabschiedet. Die AfD hat die Leute mit wirtschaftlichem Sachverstand, wie beispielsweise Meuthen oder Lucke, in die sprichwörtliche "Wüste" geschickt, weil sie von völkischem Nationalismus gekapert wurde. Das muss klar gesagt werden. Dagegen steht das christliche Menschenbild, die Menschenwürde. Das heißt aber nicht, dass die Probleme nicht da sind. Sie sind da, sie müssen im demokratischen Diskurs gemeinsam gelöst werden. Sie werden allerdings am allerwenigsten von jenen gelöst, die ausgrenzen und Verschwörungsmythen das Wort reden.
Was wäre aus Ihrer Sicht hier die Aufgabe der katholischen Kirche? Was kann und soll sie tun?
Die Kirche sollte mutig und laut sagen, dass die Würde des Menschen deshalb unantastbar ist, weil sie bei Gott hinterlegt, durch Gott verbürgt ist. Daraus folgt alles Weitere, insbesondere die Geltung und Anerkennung der Menschenrechte. Weil sie für alle gelten, genau darum sind die Aufgaben nicht durch Abschottung und Ausgrenzung zu lösen. Darum ist die Schöpfung zu bewahren, weil die Ärmsten der Armen unter den Katastrophen am meisten leiden. Die Kirchen sollten ihr Welt- und Menschenbild offensiv in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Es orientiert sich am Beispiel Jesu, der ja der "Freund der Huren, Zöllner und Weinsäufer" genannt wurde. Warum? Weil er jedem Menschen eine Chance gab. Das sollte heute umgesetzt werden, in den Gemeinden, Pfarreien, Verbänden. Und dabei ist das Beispiel Jesu auch hier maßgebend: "Was willst du, dass ich dir tun soll?" Hilfe muss kreativ sein, bedarfsgerecht, nachhaltig. Und sie muss für Teilhabe sorgen, im umfänglichen Sinn. Sie muss mithelfen, dass Ängste ernst genommen werden, Probleme benannt und nicht verschwiegen werden. Kirche darf sich nicht abseits im gesellschaftlichen Ringen um die besten Lösungen stellen. Sie kann Sinn und Ziel ihres Tuns klar definieren, sie hat ein "produktives Vorbild", sie hat ihre Soziallehre und vor allem: Sie hat eine begründete Hoffnungsperspektive, die sie anbieten kann.
Anders als im 20. Jahrhundert sind die Christen heute eine Minderheit: In Mecklenburg-Vorpommern sind es gut 17 Prozent. Haben die Kirchen überhaupt noch irgendeinen Einfluss auf politische Entwicklungen?
Wenn ich an die Caritas und an die Diakonie denke - sie sind ein starkes Stück Kirche und werden anerkannt und ernstgenommen. Und es stimmt: Der Einfluss der Kirchen ist rein nominell im Schwinden begriffen. Aber mir scheint auch, dass die Zunahme von extremem Denken, von Verschwörungsmythen durchaus in gleicher Proportionalität verläuft wie die Abnahme des Christlichen. Dieser Befund zeigt doch, dass Menschen Halt und Orientierung suchen und sie derzeit bei den Kirchen so nicht finden. Aber ich frage:Doch muss das so sein? Vor allem: Muss das so bleiben? Hier scheint mir einer der wesentlichen Knackpunkte zu sein, wo Kirche ansetzen kann und ansetzen muss. Der Pastorale Orientierungsrahmen, die Hirtenworte unseres Bischofs zu den Ansgarfesten 2022 und 2023 geben eine klare Orientierung. Wir sind als Kirche nicht dazu verdammt, anderen den Vortritt zu lassen, vor allem dann nicht, wenn sie versuchen, sich in "Fake News" und in antidemokratischem Wortschwall, der von Antisemitismus und Hass durchtränkt ist, gegenseitig den Rang abzulaufen.
Dieses Interview mit Rudolf Hubert erscheint am 1. Oktober 2023 in der Neuen Kirchenzeitung.