Tragik – Glauben
I
"Die Verurteilung des Großinquisitors!" (Hans Urs von Balthasar "Der antirömische Affekt", Freiburg-Basel-Wien 1974, S. 295 ff) Mit dieser Überschrift als Epilog endet das Buch "Der antirömische Affekt" von Hans Urs von Balthasar. Er bezieht sich in seinem Epilog auf Dostojewskis Legende vom Großinquisitor, der den wiedergekehrten Christus verurteilt. Christus habe der Menschheit ein Geschenk gemacht, von dem er wusste, dass es die Menschen überfordert. Das sei seine Schuld! Der Mensch - so die Meinung des Großinquisitors - kann mit der Freiheit nicht umgehen. Sie ihm zu geben, sie ihm als Geschenk zu machen, sei frevelhaft, besonders deshalb, weil Christus von der Überforderung wusste. Der Mensch müsse zu seinem eigenen Schutz domestiziert, geführt und kontrolliert werden. So zumindest die Meinung nicht nur des legendären Großinquisitors von Dostojewski, sondern aller Machthaber und Despoten zu allen Zeiten und an allen Orten. Sie beanspruchen die Macht und geben vor, es ausschließlich zum Wohle aller Menschen zu tun. Auch die Kirche - und das ist besonders tragisch, weil sie etwas anderes verkünden und verwirklichen soll - ist, wo sie weltliche Macht besaß und besitzt, nur allzu anfällig für das süße Gift der Korruption, Rechthaberei und Selbstbeweihräucherung. Darum ließ Balthasar die Geschichte vom Großinquisitor nicht dort aufhören, wo Dostojewski sie enden ließ. Balthasar führte Dostojewskis Legende weiter. Nach 300 Jahren wird der Großinquisitor selbst vor Gericht stehen. Ihm wird der Prozess gemacht:
"Ganz richtig: ‚Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral‘, aber wir sind es, nicht du, die damit ernst gemacht haben. Und siehst du, der Witz der Weltgeschichte liegt darin, dass wir, nicht du, damit das Gebot deines Christus erfüllen, dass es besser sei, etwas zu leisten, als "Herr, Herr!" zu sagen. Erst kommt das Handeln, dann, wenn noch Platz dafür ist, der Glaube. Wir Orthopraktiker sind näher beim Evangelium als du, aber glauben atheistisch an Gott… Wir handelnde Christen sind mündig genug, auch unter der Flagge des Marxismus zu segeln und trotzdem wir selber zu sein. Wir können ebensogut als Jesuiten Nietzscheaner sein und sind es wirklich und mit gutem Gewissen, denn der von dir eingerichtete fromme Verein ist doch lauter bürgerliche Verlogenheit und dekadente Selbsttäuschung einer in ihren Konventionen hoffnungslos eingeschlossenen Gesellschaft…" (Hans Urs von Balthasar "Der antirömische Affekt", Freiburg-Basel-Wien 1974, S. 296)
Wie endet diese bittere Anklage bei Balthasar? Sie endet eigentlich nicht, sondern bricht ab mit dem Eingeständnis,
"dass der Erste wirklich an den letzten Platz gelangen kann, ohne seinen Dienst aufzugeben." (298)
So kann sie enden. Doch muss, ja sollte sie so enden? Auf diese bittere Anklage kann es auch einen Lobpreis geben von Menschen, die mit der Institution Kirche eigentlich nicht so recht vorankommen. Wie beispielsweise Eugen Drewermann, dessen Hymnus auf die Kirche sowohl Schmerz als auch Sehnsucht verrät:
"Dann verbleibt eine nie endende und tief empfundene Dankbarkeit zu jener ‚unsichtbaren Kirche‘, die besteht aus all den vielen, die in ihrem Leben und mit ihrem Leben standen und einstanden für ihren Glauben an die Botschaft Jesu, ein Reich Gottes sei möglich inmitten dieser Welt. Durch ihren Einsatz, ihre Unbeirrbarkeit, durch ihren Mut und ihre Treue ging Jesu Zeugnis weiter, und jeder, der es auf sich nimmt, erkennt in ihnen seine wahren Brüder, seine wahren Schwestern wieder. Es gibt sie doch, jene Gemeinschaft ‚aller Heiligen‘, der wir in aller Unvollkommenheit, doch voller Sehnsucht bewundernd und bestärkt entgegenwandern, von ihr getragen und verlockt in dem Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte: ‚Unser Vater, himmlischer du, was du bist, das gelte, was du wirkst, das komme, was du willst, geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.‘" (Mt 6,9.10) (Eugen Drewermann, "Wendepunkte", Ostfildern, 2014, S.326)
Und diese Sehnsucht, dieser Schmerz sind nicht unbegründet ob der vielen Aufgaben, die für die Kirche heute anstehen. Wenn gleichzeitig miterlebt wird, dass wir alle doch nur "irdene Gefäße" in den Händen halten, die allzu leicht zu zerbrechen drohen. Denn:
"Die Religion, speziell die christliche, hat mehr, unendlich mehr und tieferes zu lehren als: ‚Du musst‘, ‚Du sollst‘ und: ‚Du darfst nicht‘. Sie bietet in gewissem Sinne allererst die Grundlage dafür, dass Menschen hinreichend mit sich identisch sind, um tun zu können, was sie moralisch wollen und was sie ethisch sollen." (Eugen Drewermann "Wendepunkte", Ostfildern 2014, 16)
Darum ist die einzig angemessene Sprache, die diese Welt und Gott gewissermaßen "zusammenbringt", die des Gebetes. Es ist eine der vielen Gaben, die wir der Kirche verdanken, dass sie uns Glaubenszeugen schenkt, die auch, ja vielleicht in allererster Linie Beter waren bzw. sind. Zu ihnen gehört an vorderster Stelle Karl Rahner.
"Karl Rahner hat ein weites Verständnis von Gebet. Jede gemachte Erfahrung - des Freudigen und des Schrecklichen - weist über sich hinaus in das Land einer unbegrenzten Hoffnung, darin Gott wohnt. Einem Gesprächspartner antwortet er auf die Frage ‚Beten Sie?": ‚Ich hoffe, dass ich bete. Sehen Sie, wenn ich in meinem Leben immer wieder in großen und in kleinen Stunden eigentlich merke, wie ich an das unsagbare, heilige, liebende Geheimnis grenze, das wir Gott nennen, und wenn ich mich dem stelle, gleichsam auf dieses Geheimnis mich vertrauend, hoffend und liebend einlasse, wenn ich dieses Geheimnis annehme, dann bete ich - und ich hoffe, dass ich das tue.‘… Beten ist also ein vielfältiges Zeugnis des Glaubens, der sich zur Sprache bringt". (So Karl Lehmann in "Beten mit Karl Rahner", Freiburg-Basel-Wien 2004, Band 2, 9f)
So soll also ein Gebetswort Karl Rahners die Gedanken zur Kirche beschließen:
"Für die Kirche soll ich beten, mein Gott… Mein Glaube kann doch nur leben in der Gemeinschaft derer, die zusammen die Heilige Kirche Jesu bilden… Mein Gott, hab Erbarmen mit uns armen engen und sündigen Toren, die wir deine Kirche bilden, hab mit denen Erbarmen, die sich deine Stellvertreter nennen. (Ich finde das Wort, ehrlich gestanden, nicht gut, weil sich Gott doch nicht vertreten lassen kann.) Hab Erbarmen mit uns. Ich will nicht zu denen gehören, die die Amtspersonen in der Kirche tadeln und noch mehr als sie dazu beitragen, dass deine Kirche unglaubwürdig erscheint… Man kann auch legitime Hochgesänge auf die heilige Kirche singen. Sie bekennt ja durch alle Zeiten hindurch deine Gnade und dass du über alles, was außer dir gedacht werden kann, unaussprechlich erhaben bist. Und darum hat sie bis zum Ende der Zeiten eine Existenz, auch wenn ich dann das Reich Gottes erwarte, das auch die Kirche aufhebt. Aber auch ein etwas bitterer Klagegesang und ein Flehen um das Erbarmen Gottes für die Kirche preist diese Kirche und dein Erbarmen." (Karl Rahner "Für die Kirche", 2004, 126 ff.)
II.
Man könnte über diese bittere Anklage, die dem legendären Großinquisitor ins Gesicht geschleudert wird, noch sehr lange diskutieren in Bezug auf die Kirche. Aber diese Legende ist durchaus auszuweiten auf den Bereich der Gesellschaft und Politik. Wir leben heute - Gott sei Dank - in großen Teilen Europas und der Welt in einer demokratischen Gesellschaft mit parlamentarischer Demokratie, unabhängiger Justiz, mit freier öffentlicher Meinung und einer Marktwirtschaft in sozialstaatsrechtlichen Rahmenbedingungen, die Ausdruck sind für eine grundsätzliche Fürsorge und Verantwortung den einzelnen Mitgliedern dieser Gesellschaft gegenüber. Dass dabei nicht alles optimal verläuft, ja verlaufen kann, dürfte jedermann und jeder Frau einleuchten. Und dass man gegen die "Mächtigen" aufstehen kann, wird durch diese Gesellschaft, die die freie Meinungsäußerung schützt, ausdrücklich verbürgt.
Und wie wird diese Demokratie geschätzt? Welches Ansehen hat sie? Da gibt es Menschen, die eher skrupellosen, kriegführenden Despoten glauben als gewählten Politikern. Da werden Mythen erdacht von dunklen Mächten und "grauen Eminenzen", die die "Elite" bilden oder sie unterstützen, die niemand kennt, die aber alle Geschicke lenken. Und dann DAS KAPITAL. Es ist skrupellos und hat fast sämtliche Menschen in Politik, Wirtschaft, Medien und Militär - um des Profits willen - korrumpiert und manipuliert. Es funktioniert mit unbestechlicher mathematischer Logik: Der Reiche wird reicher, der Arme wird ärmer. In der freien und offenen Gesellschaft kommt solches Tun, das diesem Klischee entspricht, i.d.R. auch ans "Tageslicht", so dass die, ja "schon immer alles gewusst haben", sich klammheimlich die Hände reiben und mit gewichtiger Miene verkünden: "Ja, das haben wir nicht nur gewusst. Das musste auch so kommen, sogar ‚gesetzmäßig‘, weil das Kapital immer einen Weg findet, um seinen Profit zu mehren. Und es wird immer willfährige Handlanger finden." Und auf der anderen Seite wird noch eins draufgesetzt, weil man dort vorgibt, nicht nur die Mechanismen des Kapitalismus zu kennen. Man meint auch zu wissen um jene, die im Verborgenen die Strippen ziehen und die Marktmechanismen zu ihren Vorteilen ausnutzen.
Nun ist es ein Indiz der offenen Gesellschaft, dass sie weder Missbrauch gänzlich verhindern noch ausschließen kann. Und wenn dann pauschal ge- und verurteilt wird, ist sie selbst schutzlos gegen Verdächtigung, weil sie weder willens noch in der Lage ist, diese Aufklärung zu verbieten. Das Gegenteil ist der Fall, was allerdings zur Folge hat, dass Missbrauch und negative Auswüchse dazu führen, dass jene Gesellschaft, die diese Aufklärung fördert und fordert, immer wieder von Despoten und Verführern mit Generalverdacht und Pauschalverurteilung überzogen wird. Und wer diesen fast teuflischen Mechanismus aufdeckt, ist vermeintlich selbst Teil der Elite oder ein armes, manipuliertes Opfer oder beides. Derjenige, der bescheiden darauf aufmerksam macht, nicht im Besitz dieser "unfehlbaren" Wahrheit zu sein, wird als Heuchler, Lügner oder Teil der "finsteren Mächte" diffamiert.
Hinter all dem steckt letztlich eine religiöse Dimension. Das leuchtet sofort ein, wenn man in Anschlag bringt, dass in der Religion mit der alles bestimmenden Wirklichkeit GOTT bezeichnet wird. Es geht - bei all diesen Vorgängen - immer um die alles bestimmende Wirklichkeit, sei es nun Macht, Geld, Luxus, Einfluss, Status oder dergleichen. Sie alle nehmen - obwohl endlich und vergänglich - "göttliche" Attribute für sich in Anspruch. Und es wird immer wieder zum Aufklärungsdienst der Gläubigen gehören, auf diese falschen Götter- oder Götzenbilder als solche aufmerksam zu machen. Der "Thron Gottes" muss immer wieder - das scheint mir heute eine der wesentlichen Aufgaben des Glaubens, zumindest auch, zu sein - freigehalten, mitunter freigekämpft werden. Auch von Bildern und Begriffen, die uns hineingeleiten können in das uns ermöglichende und umgebende Geheimnis, das wir uns aber per se nicht "untertan machen können". Auch die eigenen Gottesbilder, auch die exaktesten Begriffe und Definitionen sind nicht GOTT! Weil viele Menschen diesen Status nicht aushalten oder akzeptieren, erleben wir immer wieder die Verführung durch neue "Götter".
Wir werden als Christen, auch als Demokraten, mit dieser Wirklichkeit leben müssen. Eine andere gibt es nicht. Die Welt ist durchzogen von tragischen Widersprüchen, gegen die kein Großinquisitor etwas ausrichten kann. Wir können immer wieder nur - und zwar täglich neu - versuchen, unseren Teil zur Verbesserung der Situation beizutragen. Das ist unsere, uns von Gott her auferlegte moralische Pflicht, ohne die wir uns selbst verfehlen würden. Dazu gehört auch, aufzuklären und Despoten zu entlarven, die immer wieder neu versuchen - heute mit neuesten und besten technischen medialen Möglichkeiten - den Menschen einzureden, sie lebten nicht "jenseits von Eden" und das "Paradies" sei selbstverständlich aus eigenen Kräften - und nur aus eigenen Kräften - herbeizuführen. Was fast immer verschwiegen wird - und was dann immer wieder neue, furchtbare und traurige Realität wird - ist der Satz: "Koste es, was es wolle. Wir erreichen unser Ziel - um jeden Preis!"
Mir fällt hier Reinhold Schneider ein, der angesichts seiner Erfahrung vor über 60 Jahren schrieb:
"Hier ist die Grenze; ich glaube, die schärfste, die sich überhaupt ziehen lässt. Nicht Glaube oder Unglaube formieren die erste Instanz, sondern die Anerkennung des Tragischen; sie geht dem Glauben voraus. Das Christentum ist nur fassbar in einer unheilbaren, aber erlösbaren Welt. Im Verständnis des Tragischen als eines unaufhebbaren Daseins-Widerspruchs liegt eine wesentliche Kontinuität unserer Überlieferung; in seiner Leugnung ein nicht zu verschmerzender Bruch." (Reinhold Schneider in: "Pfeiler im Strom", Wiesbaden 1958, S. 96)
Die Tragik als Gegenspieler des Glaubens. Ja und nein, denn nicht die Tragik, sondern der Glaube hat das letzte Wort über die menschliche Existenz. Um es so zu sagen:
"Ob das Christentum der heutigen… Menschheit sich als die Antwort Gottes auf ihre neuen, noch nie so gehörten Fragen glaubhaft machen kann, wird entscheidend von der Tiefe abhängen, in der die Christen ihre christliche Wahrheit verstehen, leben und lieben." (Hans Urs von Balthasar, Gottesfrage, 1956, S. 222)
"Wenn das Christentum die mit absolutem Optimismus geschehende Inbesitznahme des Geheimnisses des Menschen ist, welchen Grund sollte ich dann haben, kein Christ zu sein?" (Karl Rahner, "Schriften" V, S. 16)