Was bedeutet "Caritaspastoral"?
Frage: Lieber Rudi, seit Anfang Juli 2019 bist Du als Referent für Caritaspastoral im Verband tätig. Kannst Du kurz etwas zu Dir und zu Deiner neuen Aufgabe sagen.
Rudolf Hubert, Referent für Caritaspastoral und zuvor jahrzehnte lang Regionalleiter (Kreisgeschäftsführer) in Schwerin, hier bei seiner Einführung in das neue Amt.Foto: Achim Rizvani
RH: Ja, gern. Ich bin 1958 in Hagenow geboren, bin also ein "waschechter Ossi", verheiratet und habe 4 Kinder und mittlerweile auch 4 Enkelkinder. Als "Fürsorger im kirchlichen Dienst" (die DDR hatte für Sozialpädagogen keinen Platz, weil die soziale Frage im "real existierenden Sozialismus" ein für alle Mal erledigt sein und nur noch den imperialistischen ‚Westen‘ betreffen sollte) und dann als diplomierter Sozialarbeiter/Sozialpädagoge war ich viele Jahre als Geschäftsführer des Kreisverbandes Westmecklenburg der Caritas Mecklenburg e. V. tätig. Nach der Fusion der drei Landescaritasverbände zum Caritasverband für das Erzbistum Hamburg e. V. im Jahr 2018 leitete ich bis Ende Juni 2019 als Regionalleiter die Caritas - Region Schwerin. Neben dieser Tätigkeit war bzw. bin ich als Moderator an der Entwicklung pastoraler Räume im Erzbistum Hamburg beteiligt.
Ich wurde vom Vorstand des Verbandes auf die neu eingerichtete Stelle Referent für Caritaspastoral berufen, die ich seit dem 01. Juli 2019 innehabe. Wesentliche Aufgabe der Caritaspastoral ist die Förderung und Entwicklung von Spiritualität und christlicher Verbandskultur in der Caritas im Norden. Außerdem gehört es zu meinen Aufgaben, mitzuhelfen, eine stärkere Vernetzung von Gemeinden und Orten kirchlichen Lebens zu fördern und Menschen spirituell zu begleiten. Meine theologischen Überlegungen beziehen sich vorrangig auf das II. Vatikanische Konzil und vor allem auf die Theologie Karl Rahners,[1] dessen Impulse ich für eine zeitgemäße Caritas-Theologie für unverzichtbar halte.
Frage: Das ist mir nicht ganz klar. Ich kann doch eine gute Krankenschwester, ein guter Sozialarbeiter sein, ohne dass ich jeden Sonntag 'in die Kirche renne'.
RH: Vielleicht spielt da meine eigene Biografie tatsächlich eine ziemlich große Rolle. Ich komme ja aus einer Zeit, in der über Jahrzehnte Kirche lächerlich gemacht und bekämpft wurde. Später - und das scheint auch heute vielfach der Fall zu sein - wurde Kirche gesellschaftlich zunehmend irrelevant. Sie kam bzw. sie kommt häufig nicht wirklich mehr vor in der gelebten und medialen Wirklichkeit. Allerhöchstens als skurril oder beschämend. Stichworte seien hier der Missbrauchsskandal, die Frauenfrage oder Machtfragen, die die Botschaft Jesu entstellen. Doch nun direkt zu Deiner Frage. Ich kann es eigentlich nicht anders sagen als im Aufsatz aus dem Jahr 2012, weil die Aussagen, die dort über die Kirche gemacht wurden, in analoger Weise für die Caritas gelten:
"Eine geschwisterliche Kirche wird die Nöte, Fragen, Sorgen und Hoffnungen der Zeit teilen und so erkennbar bleiben. Diese "Zeitgenossenschaft" ist Ausdruck tätiger Nächstenliebe, die auch die Feindesliebe beinhaltet. In einer globalisierten Welt kennt die Liebe zum Nächsten auch keine Grenzen mehr, die durch Staaten oder Entfernungen errichtet werden…"[3]
Eugen Drewermann sagt es in ziemlich drastischen Worten:
"Wie nötig wäre Religion! Wer, wenn nicht sie, könnte den Menschen sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur."(Eugen Drewermann "Wendepunkte", Ostfildern, 2014, S. 9)
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Die Caritas hat in steigendem Maße auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe, nämlich denjenigen Menschen eine Stimme zu geben, deren Stimme schwach oder verstummt ist. Ich denke hier nicht zuletzt an Menschen mit Migrationshintergrund, Flüchtlinge, denen das Mittelmeer zur Todesfalle wird. Ich denke an die vielen Ausgegrenzten, an die Einsamen, Unverstandenen, an Menschen, die es im Leben mit sich und anderen schwer haben. Ich denke besonders auch daran, dass es gut ist, zu helfen, wie es in Jesu Parabel der barmherzige Samariter getan hat. Das ist der eine Aspekt.
Der andere Aspekt macht auf folgenden Umstand aufmerksam: Vielleicht wäre es, um im Bild zu bleiben - neben der unmittelbaren Hilfe - nachhaltiger, dafür zu sorgen, dass die Straße so sicher ist, dass erst gar keiner unter die Räuber fallen kann. Im Klartext: Wenn Politiker heute davon reden, die Flüchtlingsursachen zu bekämpfen, dann muss Kirche, dann muss Caritas auch deutlich sagen: "Schluss mit dem neoliberalistischen Raubtierkapitalismus, der mit dafür sorgt, dass ganze Kontinente verelenden."
Was hat das mit Religion zu tun? Hans Urs von Balthasar sagt es so:
"Nur wo Gott Person ist, wird der Mensch als Person ernstgenommen…Mit dieser Einsicht ist die biblische Religion … in die Geschichte eingetreten. Sie droht überall wieder dort zu versinken, wo Gott nicht mehr personal als die freie Liebe verstanden wird… Man kann sich einbilden, für die Menschenwürde eintreten zu können, ohne an Gottes Person zu glauben…Die Logik der Geschichte wird die so verabsolutierten Personen doch wieder existentialistisch oder kollektivistisch nivellieren. Zu Futter für Kanonen und Experimente, zu Dünger für die Evolution." (Hans Urs von Balthasar "Klarstellungen", Freiburg-Basel-Wien 1971, S. 38 f )
Frage: Ok, aber was machst du denn nun konkret?
RH: Lieber Achim, wichtig sind mir vor allem die menschlichen Kontakte. Sie zu knüpfen, zu festigen und auszubauen, darin sehe ich einen wesentlichen Teil meiner Arbeit. Zusammen mit den Regionalleitungen der Caritas vor Ort, den Ortsgeistlichen, den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und all jenen, die in den Pfarreien und pastoralen Räumen eine Konzeptstelle für diakonische Pastoral innehaben, möchte ich erkunden, wie die Zusammenarbeit verbessert werden kann. Da bin ich zunächst und vorrangig "Hörer des Wortes"[4]. Dabei ist mir wichtig zu betonen: Ich habe kein Patentrezept. Nur vor Ort kann am besten herausgefunden werden, was geht - und auch, was nicht geht. Ich denke, wir müssen die Stärken stärken und die Schwächen schwächen. Sonst arbeitet man sich unnütz ab und vergeudet Zeit, Kraft und wertvolle Ressourcen. Unser Erzbischof spricht immer wieder von einer "gabenorientierten Pastoral". Das sehe ich genauso: Jeder Mensch, wirklich jeder Mensch, hat von Gott Gaben erhalten, um dem Gemeinwohl zu dienen. Keiner kann alles, und niemand vermag überhaupt nichts. Bei all diesen Bemühungen ist mir auch die Zusammenarbeit mit den Abteilungen und dem Vorstand des Verbandes wichtig, denn wir sind ein Verband im Erzbistum Hamburg. Daraus folgt auch, dass die Subsidiarität, von der wir sprachen, die legitime Unterschiede als Bereicherung wertschätzt und nicht nivelliert, ergänzt wird durch die Solidarität aller Glieder des Volkes Gottes.
Wichtig ist mir zudem die spirituelle Begleitung der Orte kirchlichen Lebens und auch der Gemeindemitglieder, besonders jene, die sich caritativ engagieren. Dabei sollten möglichst wenig Berührungsängste zum Tragen kommen, denn Gottes Heil gilt allen Menschen. Karl Rahner sagt es so:
"Wir sollten Ausschau halten nach den ‚christlichen Heiden‘, d. h. nach den Menschen, die Gott nahe sind, ohne dass sie es wissen, denen aber das Licht verdeckt ist durch den Schatten, den wir werfen. Vom Aufgang und Niedergang ziehen Menschen ins Gottesreich auf Straßen, die in keiner amtlichen Karte verzeichnet sind. Wenn wir ihnen begegnen, sollten sie an uns merken können, dass die amtlichen Wege, auf denen wir ziehen, die sicheren und kürzeren sind."[5]
Weihbischof Schwerdtfeger aus Hildesheim stimmt dem ausdrücklich in seiner lesenswerten Arbeit "Gnade und Welt" zu:
"Es schadet nichts, wenn der Christ sich scheinbar kaum von einem nüchtern-tapferen Menschen unterscheidet, der das Leben liebt, ohne sich über es Illusionen zu machen. Denn wenn ein solcher diese illusionslose Liebe zur Welt bis zum bitteren Ende durchträgt und bewahrt, dann ist das Gnade Gottes und er selbst in der Gnade Gottes ein "anonymer Christ".[6]
Frage: Für mich schließen sich da noch zwei Fragen an. Erstens: Wenn der Christ sich scheinbar nicht unterscheidet von einem "nüchtern-tapferen Menschen", was ist dann das eigentlich Christliche an unserem Tun, in unserem Verband? Und - damit zusammenhängend - ich erlebe neben vielem Schönen oft auch eine Überforderung, ja ein Ausgebranntsein von Menschen im sozialen Bereich? Sie erleben sich doch oft wie Sisyhpus. Wie kann Glaube da Lebenshilfe sein?
RH: Ich denke, beide Fragen hängen eng miteinander zusammen. Vielleicht haben wir heute auch ein Wahrnehmungsproblem, d. h., dass wir schnell sehen, was alles nicht gut läuft und dabei das Unscheinbare, das Alltägliche, das wirklich alles Große trägt, übersehen. Denn eines muss man immer wieder deutlich sagen: Wo und wann immer wir in unserem Leben Menschen erleben, die einfach gut sind, dass wir an ihnen ablesen können, was unser Glaube meint und bezeugt - da wird jede - auch institutionelle - Enge und Kleingläubigkeit gesprengt. Da passiert all das, was wir als Kirche, als Caritas eigentlich meinen. Wo jemand treu seinen Alltag bewältigt, ohne darum großes Aufsehen zu erregen, passiert die "Gnade des Alltags"[7]. Das passiert ungezählte Male und wir sollten den Menschen sagen: Macht das so weiter, das alles ist nicht nur toll. Das ist das Eigentliche, worauf es im Leben ankommt. Viele haben eine unbedingte Hoffnung, wenn ich auf all das engagierte und zuverlässige Zeugnis tätiger Nächstenliebe in Beratungsdiensten, in Jugendhilfeeinrichtungen, am Krankenbett usw. schaue. Wir Christen sagen, dass wir einen Namen haben, der die Berechtigung dieser Hoffnung verbürgt: Jesus von Nazareth. Andere mögen andere Gründe anführen. Zumindest würde ich immer sagen, dass wir als Christen gute Gründe haben, uns buchstäblich auf Jesus zu verlassen.
Denn bei allem Tun wird man immer auch sagen müssen, dass wir nur stückweise weiterkommen, mitunter ist es sehr, sehr mühselig. Die Frage, die aufsteht, gerade in sozialen Diensten - lautet doch auch: Kann jemand auf Dauer in einem caritativen Dienst stehen, ohne die Spannung von Einsatz und Scheitern (d.h. Not, Elend und Tod scheinen mir die Arbeit des Sisyphus zu sein) innerlich anzunehmen und positive in sein Tun zu integrieren? Und hier hilft mir persönlich der Glaube sehr - denn ich muss die Welt auch nicht ‚erlösen‘. Wenn ich mich drangebe, wenn ich mich einsetze, dann kann und darf ich auch sagen: Herr, mache Du weiter, wo ich mit meiner kleinen Kraft am Ende bin. Dieses kleine ‚Stoßgebet‘ ist für mich wirklich Lebenshilfe. Denn letztlich kreisen alle diese Fragen für einen Christen um Tod und Auferstehung Jesu. Das tatsächliche Scheitern Jesu war eben nicht das letzte Wort. Auferstehung meint, dass die Hoffnung nicht ins Leere geht, dass Liebe und Treue - wie bei Jesus, so auch bei uns, ja bei allen Menschen "guten Willens" - letztlich "die Oberhand behalten". Und das eben nicht aus eigener Kraft, sondern weil ER uns, seine Schöpfung grenzenlos und bedingungslos liebt. Dafür ist Jesus der untrügliche Zeuge, der uns einlädt, diese Liebesbotschaft zur inneren Haltung werden zu lassen.
[1] Rudolf Hubert: "Im Geheimnis leben" - Zum Wagnis des Glaubens in der Spur Karl Rahners ermutigen, Würzburg 2013
[3] ZKTh, Würzburg 2012, Heft 3- "Universales Sakrament des Heils" (R. Hubert, R. A. Siebenrock), S.324-343, bes. S.339ff
[4] Buchtitel von Karl Rahner
[5] Karl Rahner: "Glaube, der die Erde liebt", Freiburg-Basel-Wien, 1966, S.104; SW 10, S.653
[6] Nikolaus Schwerdtfeger "Gnade und Welt", Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 296
[7] Buchtitel von Karl Rahner
Fragen: Achim Rizvani, Verbandskommunikation